Der verwilderte Garten



In einem verwilderten Garten spielten zwei Eidechsen in der Nachmittagssonne Verstecken.
Sie flitzten durch das Unterholz und waren im Wildwuchs des Gartens kaum auszumachen.
Die bläuliche, kleinere von beiden war auf der Suche nach einem Schlupfloch in den hintersten Teil des Gartens gelangt, wo sie zuvor noch nie gewesen war.
Flink lief sie unter dem Gestrüpp und über die Gräser hinweg und spähte nach einem Unterschlupf, wo sie sich vor ihrer Spielgefährtin verbergen konnte.
Ein kleiner Hügel, der über und über mit Farn bedeckt war, kam ihr da gerade gelegen.
Auf dem Hügel stand ein grauer Stein mit einer Mulde, wo sich die Eidechse hinein duckte und ganz ruhig verhielt. Schon konnte sie die zweite Eidechse in der Nähe rascheln hören und sie wartete lautlos ab, wie es die Art von Eidechsen ist.
Die Mulde, in der sie Zuflucht gesucht hatte, war dicht mit Moos überzogen und die Eidechse passte genau in ihre Auswölbung hinein. Behaglich streckte sie sich aus und genoss die tanzenden Flecken von Sonnenlicht, die immer wieder durch das Laub der Bäume hindurch auf ihren Körper fielen und sie wärmten.
Das Rascheln ihrer Spielgefährtin konnte sie jetzt nicht mehr hören.
Es war rundherum vollkommen ruhig geworden und nur die Stimmen der Vögel und der Zikaden waren zu hören. Die kleine Eidechse spürte, wie sich die Oberfläche ihrer Haut dehnte und entspannte. Die Wärme der Sonne schien durch ihre Haut hindurch direkt in ihr Inneres hinein und ein sanftes Glühen erfüllte sie. Mit jedem Atemzug durchströmte sie mehr Frische und Lebendigkeit. Auf ein Mal waren alle Sorgen um Futter oder einen Schlafplatz verschwunden und sie war einfach nur ein glücklicher Teil dieses wunderbaren, pulsierenden Lebens. Vollkommen geborgen kuschelte sie sich tiefer in die moosige Mulde und schlief ein.

Nach einiger Zeit wachte sie tief erholt wieder auf und machte sich auf die Suche nach ihrer Spielkameradin. Sie fand die grüne Eidechse im vorderen Teil des Gartens auf einem Stein sitzen und missmutig in die Sonne blinzeln.
" Wo bist du gewesen?" fragte sie diese.
" Ich... ich war am schönsten Platz der Erde. Eine Mulde aus Stein, mitten in einem großen aufrechten Stein im hintersten Teil des Gartens."
Die grüne Eidechse riss die Augen auf.
" Du warst beim steinernen Menschen? Du hast dich in seine offene Hand gelegt?
Bist du denn lebensmüde?"
"Lebensmüde? Wieso? Im Gegenteil. Ich hab mich selten lebendiger gefühlt."
"Weißt du denn nicht, dass die Menschen eine große Gefahr für uns Eidechsen darstellen? Sie stellen uns nach, sie reißen uns die Schwänze aus und töten uns.
Und du läufst ihm direkt in die Arme!"
"Dieser Mensch war ganz anders. Er hat mir Zuflucht geboten und mich bei sich ausruhen lassen. Da war einfach nur die Wärme, das Licht, der Augenblick, Vertrauen, dass ich beschützt bin. Ein winziger Teil des großen Ganzen.
Wenn du möchtest, laufe ich gerne mit dir zusammen dorthin."
Die grüne Eidechse schüttelte zweifelnd den Kopf, doch dann überwand sie ihr Misstrauen und ihre Angst und folgte der blauen Eidechse zu dem steinernen Menschen im hinteren Teil des Gartens.
Der saß auf einem Hügel aus Farn, die Beine überkreuzt, vollkommen aufrecht, eine Hand empfangend nach oben geöffnet, die andere nach unten die Erde berührend, und erwartete die beiden Eidechsen mit einem Lächeln.


                                                     Dezember 2017 , Marie Laschitz







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